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    REISEBLOG von Andrea Grill

    « Coucou Generalstreik! »

    Andrea Grill

    © Privat/Universität Wien

     

    Nicht zuletzt ein Gedicht in Form einer Uhr überzeugte mich, dass es sich lohnt, das Französische zu lieben. «Grill kommt zu spät» hatte acht Jahre lang fast täglich im Klassenbuch gestanden, zur Matura kam sie rechtzeitig – und bestand, unter anderem mit einem Text über das Zuspätkommen und das zu schnelle Vorrücken der allgemeinen Zeit im Vergleich zur inneren Uhr, im Stil der französischen Surrealisten. Bei Guillaume Appolinaire hatte ich entdeckt, dass Texte nicht aus ordentlich untereinanderstehenden Zeilen bestehen müssen, durchaus rund sein können, eckig oder eine Spirale, auch aussehen dürfen wie eine Frau mit Hut oder der Eiffelturm. Seine «Calligrammes», in denen er mit Worten zeichnete, beeindruckten mich nachdrücklich. Ohne die Erfahrung,
    mit einem Gedicht eine Prüfung bestehen zu können, hätte ich vielleicht gar nicht ernsthaft zu schreiben angefangen. Ohne meine Lehrerin Cornelia, die mit den Worten «Quant j’étais en France, j’ai pris dix kilos» von einem Jahr in Frankreich zurückkehrte, wäre ich Appolinaire jedenfalls nicht so früh begegnet.

     

    F Poitiers Clain Credits Hilke Maunder

    © Hilke Maunder

    Seither nehme ich jede Einladung nach Frankreich freudig an. So auch diese nach Poitiers zu «Bruits de langues». Helene Carpentier, Professorin an der Universität Poitiers, erzählte mir voriges Jahr von dem Festival, als wir uns in Tirana zufällig kennenlernten. Wir kamen ins Gespräch, weil sie sich für Literatur interessiert und ich mich für alle Menschen interessiere, die Französisch sprechen. Sie könnten ja surrealistische Dichter*innen sein!

    Möglich machten meine Reise dann die OeAD-Lektoren Attila Huszar und Patrick Huemer mit finanzieller Unterstützung der ÖKF-Paris. Geplant war, dass ich neben Poitiers auch Bordeaux besuchen würde. Kaum in Poitiers angekommen, nach einer herrlichen Fahrt vom Gare Montparnasse aus, in einem bequemen rosa Fauteuil, in dem ich es länger ausgehalten hätte, als 1 Stunde 15 Minuten, bekomme ich laufend Nachrichten von der SNCF: Meine für die Weiter- und Rückfahrt gebuchten Züge für die nächsten Tage sind «supprimés» wegen «grève générale».

    Ich sympathisiere mit den Streikenden; obwohl ich in einem Land lebe, in dem das Pensionsalter höher ist, als das, was in Frankreich Entrüstung hervorruft. Obwohl ich mich frage, warum wir nicht dafür kämpfen, dass alle eine Tätigkeit ausüben dürfen, die uns so gut gefällt, dass wir niemehr damit aufhören wollen? Natürlich, in manchen Berufen geht das nicht. Aber in anderen doch wohl? Ich möchte schreiben bis ich hundertzehn bin. Solange es noch jemanden gibt, der lesen will. Vielleicht wäre Leser*in ein Beruf der Zukunft? Pensionsalter bis in unbestimmte Zeit verschoben? Ich bewerbe mich sofort.

    Jetzt sitze ich stundenlang am Computer, buche neue Tickets, die binnen der nächsten Stunde wieder als «supprimés» gemeldet werden. Autostopp gibt’s nicht mehr. Alle Tickets müssen im Vorfeld gebucht werden. Stundenlanges Warten in Bahnhofscafés wäre sinnlos, für alle Züge besteht Reservierungspflicht. Ich verspüre Nostalgie nach vergangenen Zeiten, in denen du einfach in jeden Zug einsteigen konntest, der fuhr. Lade die Seite neu: Keine freien Plätze verfügbar für die nächsten zwei Wochen. Attila lädt mich ein auf ein Linsengulasch, Käse, rubinroten Wein. Es könnte sein, sagt er, dass der Streik auch die Universität lahmlegt.

    Anfang der 1990er Jahre stellten wir Betten auf die Piazza in Perugia, direkt neben die mittelalterliche Fontana Maggiore; ich war nur Erasmus-Studentin, fühlte mich den Streikenden aber sehr verbunden.

    Ich bin in der Stimmung, auch in Poitiers Betten auf den Hauptplatz zu stellen, unter freiem Himmel Texte vorzutragen.

    Das ist nicht nötig. Das Festival findet statt. Der Saal ist voll. Vor aufmerksamem Publikum lese ich einen Auszug aus meinem Roman «Cherubino» in der wunderbaren französischen Übersetzung von Florence Hetzel. Das darauf folgende Gespräch, moderiert von einem Studenten von Attila, der das Buch auf Deutsch gelesen hat, zeigt: Junge Männer verstehen die Nöte der Protagonistin Iris, deren Karriere als Opernsängerin durch eine Schwangerschaft auf dem Spiel steht, genauso gut wie Frauen. Enthusiastisch wird nach dem Erscheinungstermin der französischen Ausgabe gefragt. 2024, hoffe ich.

    Poitiers wächst mir sofort ans Herz. Eine gemütliche Stadt mit malerischen Häuserzeilen, Kirchen aus dem 12. Jahrhundert, mittelalterlicher Bauten. Besonders begeistert mich das Baptisterium St. Jean aus dem 6. Jahrhundert, einer der ältesten Sakralbauten Frankreichs. Nach Bordeaux wäre ich trotzdem gern gefahren. Es erweist sich allerdings am Tag eines Generalstreiks als zu weit weg. Ich bleibe in Poitiers, ziehe um aus dem AirBnB ins Hotel de l’Europe (danke Stephane Bikalo), gehe im Park spazieren, habe schon mein bevorzugtes Café, «Café de la Paix» am Hauptplatz. Als ich frage, ob sie etwas Süßes haben, schlägt der Kellner vor, ich solle es mir aus der Bäckerei um die Ecke holen. Er würde dann den Kaffee dazu servieren.

    Das Frankreich meiner Träume scheint in dieser Stadt auch nach dem Wachwerden noch fortzubestehen. Nur ob ich je wieder nach Paris oder Wien komme?

    Ich halte meine Veranstaltung in Bordeaux von Attilas Schreibtisch aus, via Zoom. Einige Studierende sind per Computer zugeschaltet – auch sie haben es wegen des Streiks nicht an die Uni Bordeaux geschafft. Diesmal lese und spreche ich vor allem Deutsch. Die Diskussion gestaltet sich wiederum lebhaft. Manche schreiben im Chat. Die Fragen nehmen kein Ende, bis Patrick meint, es seien schon einmal Leute eingesperrt worden, die abends zu lange in der Universität geblieben waren.

    So eine Geduld über Texte zu sprechen, habe ich selten erlebt. So viel echte Neugier darauf, wie das Gewebe des Lebens mit dem Stoff zusammenhängt, aus dem die Sätze sind.

    Ob Streikende die besseren Leser*innen sind ?

     


     

    Interview avec Peter PFLÜGLER

    Le photographe autrichien Peter Pflügler expose actuellement son oeuvre artistique au sein de l’exposition Circulations à Paris dans laquelle circulent ainsi les idées et les préoccupations d’une nouvelle génération de photographes.

    Né en 1987, Peter Pflügler est un narrateur visuel qui vit aux Pays-Bas et en Autriche. Il a étudié la photographie à l’Académie royale des arts de La Haye. Son travail explore la dynamique des secrets, les traumatismes intergénérationnels et le silence liés à la tentative de suicide de son père.

    > INTERVIEW <

     

    Peter Pflugler Now Is Not The Right Time Fisheye 6

    © Peter Pflügler

     


     

    REISEBLOG von Nava Ebrahimi

    « Jenseits von Richtig oder Falsch »

    929108 Bigpicture 325870 Foto Nava Ebrahimi Clarawildberger

    © Clara Wildberger

     

    Zwischen Frankreich und mir stand immer etwas: die Sprache. Nicht, dass ich sie nicht mögen würde, aber ich habe sie nie in den Griff gekriegt, sie erschien mir stets widerspenstig, cleverer, überlegener, ein bisschen hinterlistig sogar. Dabei fing ich früh an, mir Französisch zu eigen machen zu wollen. Schon in der Grund-, also Volksschule lernte ich es, denn ich bin in Köln aufgewachsen, wo der französische Einfluss stärker war und ist. Zudem waren die achtziger Jahre noch sehr stark geprägt von der Einsicht, dass eine deutsch-französische Freundschaft unabdingbar ist für den Frieden auf dem Kontinent. Damals, so bilde ich mir ein, war die deutsche Gesellschaft von diesem Geiste durchdrungen; als ich 1985 eingeschult wurde, lag der Zweite Weltkrieg gerade einmal 40 Jahre zurück.

    Im Gymnasium setzte ich den Französischunterricht fort. Und es gab Zeiten, da bemühte ich mich wirklich. Einige Wörter, die sich als Lehnwörter im Persischen etabliert hatten, kannte ich ja schon. Aber es war, als entzöge sich die Sprache mir jedes Mal in dem Moment, ich dem ich kurz glaubte, sie eines Tages beherrschen zu können. Das Kräfteverhältnis blieb immer das Gleiche. Irgendwann, ich glaube mit 16 oder 17 Jahren, gab ich auf.

    Vermutlich deshalb hatte ich Frankreich immer gemieden. Als ich auf Einladung der OeAD-Lektorinnen Lena Druml und Katharina Jechsmayr nach Montpellier und Aix en Provence reiste, war ich rund 20 Jahre nicht mehr in Frankreich gewesen. Dort angekommen, spürte ich gleich auf seltsame Weise, dass es mir gefehlt hatte. Und ich freute mich über die sehr zaghafte Rückkehr meines Französischvokabulars, das ich auf Ewigkeiten verschollen gewähnt hatte. Die Reise nach Frankreich glich für mich einer Reise in die Vergangenheit.

    Montpellier G7f5f12589 1920

    © CC

    Im Seminar saß ich dann allerdings sehr jungen, sehr gegenwärtigen Studierenden gegenüber. Der Zweite Weltkrieg liegt bald 80 Jahre zurück und zur Notwendigkeit der deutsch-französischen Freundschaft haben sich viele andere Notwendigkeiten hinzugesellt, die internationalen Beziehungen scheinen um einiges komplizierter als damals. Und auch die Motive für junge Menschen in Frankreich, Germanistik zu studieren, sind vielfältiger geworden. Nehme ich zumindest an – jetzt, wenige Wochen später an meinem Schreibtisch in Graz sitzend, hätte ich gerne mehr über die Motive erfahren.

    Aber die Studierenden haben so viele Fragen gestellt, dass mir kaum Zeit blieb, ihnen Fragen zurückzustellen. Ich habe stattdessen ausführlich geantwortet, denn mir war wichtig, ihnen eine, meine von Migration geprägte Sicht auf die deutschsprachige Gegenwartsliteratur, und damit auf die deutsche und österreichische Gegenwart zu liefern. Die Literaturszene hat begonnen, sich zu entgrenzen; am offensichtlichsten bezüglich Herkunft der Schreibenden, aber auch hinsichtlich Geschlecht und Klasse. Während ich lange noch dachte, Literatur, „echte Literatur“ fließe hauptsächlich aus der Feder alter, weißer Männer, liefern die neueren Romane ein anderes, ich behaupte vollständigeres Bild unserer jüngeren Geschichte. Sie erzählen endlich von Gastarbeiter-, von Schwestern- und Mutterschaft, sie erzählen vom Aufbrechen der Geschlechterrollen und sexuellen Orientierungen, vom sozialen Aufstieg mit all seinen Konflikten, von hybriden, fluiden Identitäten und sie erzählen all das in einem Deutsch, das sich ständig wandelt, versucht, Machtstrukturen zu entlarven und zu beseitigen, in einem Deutsch, das „nur“ Zweitsprache und von einer Erstsprache geprägt ist, und das in manchen Ohren manchmal sogar falsch klingt. Doch es mutet inzwischen schon anachronistisch an, von falschem und richtigem Deutsch zu sprechen.

    Wer weiß, wenn das vor 30 Jahren schon so mit Französisch gewesen wäre, vielleicht spräche ich es dann heute. Bestimmt sogar, vermutlich mit vielen Fehlern, aber ich spräche es. Das ist für mich Schreiben: das Bemühen, sich mitzuteilen, nicht aufzuhören, es immer weiter zu versuchen, jenseits von Kategorien wie richtig oder falsch.

     


     

    B. Moura

    © B. Moura

     


     

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